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     und Foto: Stefan Jahnke

 

Leseprobe - Steinberg

 

Prolog   (Auszug)

"Ach, von Donin, was Ihr mir hier abverlangt!"
Der dicke Küster keuchte fürchterlich und hätte damit vielleicht eher das rechte Pferd abgegeben, als er nun vor mir eintraf und sich mit seiner ganzen Leibesfülle aus dem schäbigen alten Sattel zum Boden aufmachte.
Natürlich war ich ihm behilflich. Und ich achtete seit Wochen sehr genau darauf, dass man mir nicht ein böses Wort nachzusagen hatte. Selbst ein Schreiberling wie ich, heute hier und morgen da, muss sich eben ein wenig anpassen.
Endlich gewann der Kirchendiener den sicheren Boden zurück.
"Ah…"
Das war alles, was er von sich gab, als er sich mit seiner Fülle auf den Schemel fallen ließ. Agnes schaffte den schnell herbei, als ich das Pferd des Treuen von Dohna herüberkommen sah. Selbst wenn ich wahrlich nicht mit einem Besuch des Freundes rechnete, so war ich doch darauf vorbereitet. Irgendwann, so war es in mir seit Tagen, irgendwann kommt er und will sehen, ob ich es wirklich wage, diesen uns seit Jahren verbotenen Grund zu betreten. Aber, und das ist mein Glück, die von Mennewitz sind nicht nachtragend, eher einsichtig und vorausschauend. Außerdem erhielten sie gutes Silber für diese treue Tat. Und alles nur, um einen flüchtigen Blick auf die alten Gebiete erhaschen zu können.
"Agnes, bring Wein!"
Wie von Selbst rief ich das und sie eilte davon, was natürlich meinen Gast nun in arge Bedrängnis brachte.
"Donin, helft mir…!"
Ich eilte hinzu. Gerade noch zur rechten Zeit. Denn Calrin, mein Freund, drohte wegen seiner Fülle von jenem Schemel zu rutschen. Ich durfte das Schlimmste verhindern.
"Gut, gut… drückt mir nicht noch blaue Flecke!"
Er lachte mich an und schien sein Gleichgewicht auf dem schmalen Platze gefunden. Doch auch das Keuchen war wieder da und ich hatte ernste Sorge, dass er mir hier nach diesem Ritte noch das Letzte von sich gibt. Aber zum Glück kam Agnes schon mit dem kühlen Trunk.
Der Küster griff gierig nach dem Becher, fühlte wohl, dass dieser wirklich kalt war, und stürzte seinen gesamten Inhalt mit einem Male hinunter. Dann, noch ehe er Agnes auch nur zu verstehen geben konnte, dass es ihm nach mehr davon war, stieß er einen so lauten Rülpser aus, dass sich gar Mening, der Knecht, der gerade die Einfahrt fegte, angewidert abwandte. Doch Agnes kannte das. Nicht von dem da, sondern eher von anderen Mannsbildern, die zu hastig schütten. Und schon füllte sie den Becher noch einmal.
"Ha, es geht nichts über diesen Traubensaft von den Hängen derer von Dohna!"
Wie zum Hohn sprach mein Freund diese Worte. Dabei wusste ich sehr gut, dass er mir nichts Böses wollte. Wie auch? Würde er mich hier besuchen, wenn er Verrat oder gar Feindschaft suchte? Nein, sicher nicht! Und doch zuckte Agnes bei diesen Worten zusammen, gab mir ein Zeichen und wir gingen ein paar Schritte abseits, was natürlich Calrin nicht störte, weil er sich am Weine gütlich tat.
"Meint Ihr wirklich, Herr, dass das ein Freund ist?"
Ich nickte und sah ihr dabei fest in die Augen. Längst wussten wir beide, dass wir einander gut sind, und doch blieb eine gewisse Furcht zwischen uns. Eben, weil ich nicht hätte hier sein dürfen. Auch wenn die Mennewitzer mich duldeten, keinen Zweifel daran ließen, dass ich hierher gehöre und unter ihrem Schutze stehe… Die Angst ist nicht unbegründet, denn ich bin ein Verstoßener. Nicht ich allein. Meine ganze große und alte Sippe.
Agnes schüttelt den Kopf.
"Ihr seid verrückt. Der Mann kann Euch vernichten. Und wir wollen doch weiter in die Welt, gemeinsam vieles erleben. Überlegt… wenn er etwas verrät…"
Ich greife ihren Arm und sie schaut gleich scheu um sich, dass uns auch niemand anderes dabei überrascht.
"Er ist ein Freund. Und warum sollte er den Weg auf sich nehmen, wenn er mich nur verraten will? Dann hätte er einfach die Schergen schicken und mich greifen lassen können. Nein, er will der alten Freundschaft willen, die seine und meine Sippe bindet, nur reden, mir erklären, was ich doch bisher nicht begreifen kann!"
Laut donnernd werden wir aus dem Reden gerissen. Die Glocke der Kapelle, gleich da drüben, schlägt die Mittagsstunde und mein Küster rutscht ganz langsam, sicher ein wenig benebelt vom Wein in der Hitze, nach unten.
"Oh Gott… was gibst Du mir für Prüfungen auf!"
Wir sind bei ihm. Calrin genießt nicht nur die nun nicht schlimmer werdende Lage, sondern schaut Agnes auch noch unzüchtig von unten her an.
"Ein hübsches Liebchen, das Euch da nun hierher gebracht hat!"
Ich greife mir einen Reißer des Weidenbusches neben dem klapprigen Tisch und lasse ihn ohne Kraft auf seinem breiten Hintern tanzen. Und auch wenn Agnes die Hände vor die Augen schlägt, so wundert sie sich, dass Calrin plötzlich anfängt zu lachen.
"Glaubt Ihr wirklich, ich sei ein Feind?"
Tränen hat er in den Augen. Freudentränen.
"Nein, Mädchen, dazu verehre ich viel zu sehr, was Euer Liebster da hin und wieder verzapft, wenn er es zu Papier bringt!"
Als wenn er es bekräftigen will, zitiert er einige Zeilen aus meinem Buch über die letzte Reise nach Süden. Ich schüttle den Kopf und wundere mich wirklich über diesen Knaben, der, kaum so alt wie ich, nur eben dreimal so dick, wie ein Käfer strampelnd am Boden liegt, gar den Schemel mit seinem Sturz zerbrach und Worte darbietet, die ich selbst jetzt, da ich weiß, dass sie von mir sind, fremd und schön wahrnehme. Ich lache aus vollstem Herzen, dass Mening, der sich bisher zurückhielt, nun wieder durch das Tor tritt und sicher denkt, der Teufel und all seine Höllenbuben wären in mich gefahren. Doch als er den Dicken strampelnd am Boden sieht… nun, da kommt er ebenfalls laut lachend herzu und hilft mir, ihn wieder richtig zu rücken. Aber der Schemel ist nicht mehr zu gebrauchen.
"Ach, lasst gut sein… setzt mich auf den Boden und lehnt mich an die Kapellenmauer. Da habe ich es fast genauso fein, wie der gute alte Pater Sebastian, der vor vielen Jahrzehnten diese Kapelle bauen ließ!"
Mening sah mich fragend an und weil ich jene Geschichte auch zum ersten Male hörte, begann der Küster gleich zu erzählen.
"Ja, damals gab es eine Menge Zwistigkeiten hier im Lande. Der Sigismund machte einen Frieden mit unserem Fürsten und die alten Birken sollten gehen. Doch davor schon hatten die wohl nur Gewalt im Sinn. Einer gar, der trieb es arg. Der Germar von der Duba. Den nannte man auch den ‚Birkfalken'. Und Sebastian wollte damals vermitteln. Aber das brachte nichts. Doch seinen Mut bekam er belohnt."
Er sah verschmitzt in die Runde.
"Ja, der Gruna, ein Freund wohl, der gab ihm aus dem Besitz des Mannes vom Falkenstein, den man wohl auf dem Königstein in vier sehr ungleiche Teile zerriss. Und, was doch eigentlich ein Blutgeld hätte sein müssen, kam so Gott zu gute."
Ah, ja… das hatte mein Vater mir berichtet. Eine kleine und windschiefe Kapelle soll es gegeben haben auf Steinberg, das man auch Gamig nennt. Und der Pater lebte wohl in einer noch viel schieferen Hütte gleich daneben. Doch dann, aus fast unerklärlichem Grunde, hatte dieser arme Prediger Silber, das ihm die von Mennewitz nicht einmal abnahmen. Nun, vielleicht doch… denn die Kapelle soll von den Knechten vom Gut errichtet worden sein. Sehr zum Gefallen der Padres aus Altzella, die hier Korn anbauen ließen.
Ich wusste, wenn Calrin kommt, dann habe ich mit Sicherheit eine Menge zu lernen. Und ich wurde keineswegs enttäuscht. Denn schon begann mein Unterricht. Zwar nicht bei meinen Vorvätern und den Gründen, warum sie nun hier, genau wie ich, nicht mehr geduldet sind. Aber eben bei der alten Kapelle und dem doch für dieses kleine Gut recht großen Neubau auf Steinberg.
Calrin streckte die Hand aus, wollte noch einen Becher.
Schließlich, und das musste ich befürchten, war er nicht nur vollends besoffen, sondern auch noch so weg, das er, einem Toten gleich, direkt an der Kapellenmauer zusammenfiel und nun nicht mehr dasaß, sondern lag. Oh, meinte ich‚ wie tot? Aber das wäre ja…
Nein, weit gefehlt…
Kaum ein paar Momente später begann ein Sägen, dass Mening, eben zurück an die Arbeit, vorsichtig, fast rückwärts gehend und mit einem halben Auge an der Torwand unten vorbeischauend, herblickte und dann, den Kopf fast wie eine Ziege mit einem Sonnenstich schüttelnd, wieder verschwand.
Ja, das ist schon ein verrückter Anblick…
Da liegt so ein ganz ins Schwarz der Prediger Gekleideter zu Füßen der Kapelle, alle Viere von sich gestreckt und einen Krach machend, dass man Angst um die Mauern des kleinen Gotteshauses bekommt. Über ihm die Wappen derer von Dohna und Mennewitz… und dazu diese Sonne, die alles dermaßen in Licht hüllt, das man eine irgendwann kommende Nacht fast verleugnen möchte.

Ich griff mir Agnes, die gerade dabei war, die Schweinereien, die Calrin angerichtet hatte, zu beseitigen, und gemeinsam überließen wir den Freund seinem Rausch. So, wie der sich fühlen würde, wenn er wieder erwacht, wird er es wohl bereuen, sich nicht auf Wasser oder Mäßigung gelegt zu haben. Zumindest rückten wir den Tisch neben ihn. Bewegen, das war mir klar, konnte er sich eh' nicht von allein. Die Platte spendete ein wenig Schatten. Nicht, dass er zu allem auch noch einen wahren Schlag und Stich bekommt. Dann wäre mein Plan, durch ihn mehr über mich und die Meinen zu erfahren, von vorn herein vereitelt.
Tja, und ein Freund müsste auch noch beklagt werden.

Sommer ist eine schöne Zeit. Egal, wo ich in den letzten Jahren unterwegs war, hatte ich doch gerade in jenen Tagen die schönsten Erlebnisse in der Natur… nun ja, und auch mit Weibsvolk. Aber das erzählte ich meiner Begleitung natürlich nicht. Zumindest nicht jetzt. Und weil eben gerade bei solchem Wetter die Aussicht schön ist, gingen wir ein Stück über den Hof hinüber gen Dohna.
"Erzählt mir etwas von Euren Vorfahren, Friedrich. Haben die wirklich dort drüben auf der Burg gelebt oder ist das auch nur so eine Geschichte, die man gern dem Weibsvolk erzählt, weil der Name auf den Ort passt?"
Verschmitzt und ein wenig schmollend sah sie mir ins Gesicht. Ja, ich konnte nicht anders. Wir standen zwischen den Bäumen und ich umschlang sie, drückte ihr meinen Mund auf die Lippen und wollte sie gar nicht mehre loslassen, dass sie nun begann, sich zu beschweren und zu winden. Was ihr nicht wirklich etwas half.
"Haltet doch an Euch, Friedrich! Was, wenn uns jetzt hier jemand so sieht und erkennt?"
Sie wand sich nun doch aus meinem Griff und rannte ein paar Schritte vor mir her. Aber natürlich holte ich sie schnell wieder ein.
"Stimmt es also, dass diese Schreiberlinge beim Weibsvolk nur das Eine im Sinn haben? Nun, dann bin ich ja gewarnt und muss nur noch beachten, dass ich Euch nicht zu oft allein begegne. Wie viele habt Ihr wohl überall da, wo Ihr bisher wart?"
Da sage mal einer, die Weiber sind keine Hexen! Gut, nicht jede gehört gleich verbrannt und die Feuer sind auch in Sachsen gottlob endlich verraucht. Aber zumindest dachte sie genau an das, was ich ihr eigentlich unbedingt verschweigen wollte, musste gar!
Ich versuchte, die Frage einfach zu überhören und sah sie, wie sie da vor mir stand, halb schüchtern, halb von sich überzeugt, mit ihrem weiten und doch zweckvollen Rocke leicht wiegend und die Brust heftig hebend und senkend, vielleicht durch das Laufen noch etwas außer Atem. Das lange, wie Gold im Sonnenlicht glänzende Haar… nein, ich sollte mich nicht zu sehr in sie versehen. Nicht, dass die Mennewitzer gar bedenken, ihr angebliches Mündel vor mir in Sicherheit zu bringen. Obwohl… wenn sie will… und ich auch…?
"Was verschlägt Euch die Sprache, wo Ihr doch sonst immer schnell und viel redet? War es meine Frage oder ist es die Erinnerung an Damals?" Sie streicht sich dabei mit der Linken durch das Haar.
"Oh, Agnes, Ihr macht mich verlegen. Und ich denke an die Geschichten, die mir Vater noch erzählte. Auch wenn er selbst nicht in diesem Gebiet war. Er hatte sie von seinem Vater und so fort… zurück bis zu jenem verrückten Spruch, der uns damals von hier verwies. Ein schlimmer Tag für die von Dohna!"
Jetzt schien sie zu erschrecken. Vielleicht dachte sie, sie hätte mich verletzt. Doch so war dem nicht.
Gut, Wehmut kann aufkommen, wenn man das schöne Land rings um uns sieht und weiß, dass es der Familie einst gehörte. Aber ich bin zu Anderem berufen, will doch nur ergründen, was sich damals wirklich abspielte, und es für immer niederschreiben.
Ob es Jemanden auf der Welt gibt, der davon etwas lesen will? Nein, egal ist mir das wahrlich nicht. Aber was soll ich denn tun? Es Jemandem unter die Nase halten, ‚Hier, lies!', schreien? Nein, sicher nicht. Ich kann es schreiben und dann sehen, ob ich einen Verleger finde, der die Arbeit in einen ordentlichen Bleisatz und das Geld in Papier und Bindung stecken will. Wenn nicht, so gibt es eben nur ein einziges Exemplar. Meines. So traurig und so stolz…
Ich stehe da. Gerade noch war Erregung in mir. Nun, Agnes betreffend natürlich. Und jetzt? Wie weggeblasen…

Dort erhebt sie sich, die Burg meiner Ahnen. Der Turm ist weithin sichtbar. Und die Lage… nun, die kann man wahrlich nicht besser wählen. Direkt über dem Tal, das im Verlaufe nach Weesenstein führen mag. Ja, das ist eine rechte Lage. Nicht einer der Feinde, kommen sie nun von Böhmen oder gar aus Dresden, wird ohne Verluste daran vorbeikommen.
Verloren.
Vor Jahren, meinte ein Onkel bei einer der wenigen gemeinsamen Feiern der letzten wahren Glieder der Sippe, denen ich mich nur zu gern durch meine Reisen entzog, ja, vor Jahren noch soll man sich vom Kloster in Altzella für die Meinen stark gemacht haben. Man könne doch nicht eine so edle Familie erst verjagen, dann vom Besitz fernhalten und doch ihren Namen im Ort belassen. Na, verlacht wurden die Schwarzröcke und ich bin mir nicht sicher, ob sogar der alte Heinrich, der sich doch 'der Fromme' nannte, sich durch dieses Tun gemüßigt sah, das Kloster aufzuheben.
Veränderung. Ich liebe dieses Wort. Und doch will man wenigstens wissen, was sich wann wie verändert hat. Man muss es aufschreiben. Für jene, die heute vielleicht noch nicht ahnen, dass sie es eines Tages hören oder lesen wollen.
Pha, Wortspiele. Mein Beichtvater meinte im fernen Florenz, dass ich die doch lieber Gott und dem Manne auf der Kanzel überlassen solle. Und doch hat er meine Schriften verschlungen. Ein Unding.

Agnes fühlt sich vernachlässigt. Geschieht ihr recht… Nein, aber ich denke es wirklich für einen Moment. Was ziert sie sich so? Ich bin ein Mann, sie ein Weib. Wir lieben uns und ich erwäge wirklich, mit ihr meinen Weg fortzusetzen, ihr die Welt zu zeigen. Nachdem ich dieses Buch über die Meinen geschrieben habe. Oder eben während ich dies tue. Warum hält sie sich dann von mir fern?
Nein, sie tut es nicht. Sie kommt auf mich zu, küsst mich und ist schon wieder fort.
"Schaut Euch Eure Burg an. Ich kümmre mich um die Küche. Sehen wir uns heute Abend beim Feuer?"
Ja, das Feuer. Ich freute mich schon auf einen Erzählabend mit Calrin. Aber nun ist das wohl heute nicht mehr drin? Ich werde sehen. Zumindest scheint Agnes sich in den Kopf gesetzt zu haben, nur als ehrbares Weib in den ewigen Bund der Ehe einzutreten …
Na, ich schaue mal lieber zur Burg hinüber. Da ist ein Stein. Hinauf und besser gesehen! Außerdem erkenne ich so, dass Agnes wirklich mit gerafftem Rock zur Küche eilt. Na, die ist doch die Rechte für mich!
Drüben im Tal schleppten sich ein paar Fuhrwerke zur Kirche. Ich entsinne mich. Zum Freitag werden die Steuern fällig und die Herren in Christo lassen sicher weniger mit sich reden, als es noch mein schon so ferner Verwandter Jeschke, ein echter von Dohna, mit sich tun ließ. Und die Burg liegt in Trümmern… edlen Trümmern zwar. Hmm… eigentlich darf ich solches nicht einmal denken. Ich kenne die derzeitigen Herren dieses Landes nicht wirklich, weiß nicht, was sie wann und wie im Schilde führen, und kann eh' nur meckern… als einer derer, die damals geschasst wurden. Von diesem Wilhelm. Ein schnöder Markgraf. Einäugig. Damit blind für die Welt?
Wenn ich doch nur mehr wüsste…
Halt… Calrin! Ich drehe mich um.
Ob der Kerl heute noch zu sich kommt? Zuzutrauen wäre es ihm wohl, denn er kann sicher einiges vertragen und muss eben nur wegen der Hast, mit der er sich zu den Engelein soff, ein wenig verschnaufen… an der Kapelle. Ob er, der Kirchendiener, vielleicht vom Klang der Glocke…? Na, ich lasse den Gedanken lieber wo er hingehört… in meinem Kopf... und darinnen ganz hinten!
Wir standen uns in brieflichen Dingen Letztens sehr nahe, dass ich gar Angst bekam, ich könnte ihn in die Bredouille bringen. Denn er schrieb sich ja mit einem Feind. Er fand wohl einen Weg, über seinen alten Abt auf fast geheimen Wegen verschicken zu können. Und da man einem kleinen Kirchendiener nicht gerade die große Hinterlist zutraute, vielleicht der Opferstock keine zu großen Differenzen aufwies und er sich gottesfürchtig und vor allem hilfsbereit zeigte, schöpfte bisher niemand einen wahren Verdacht.
Wie auch? Er tat nichts, als mir zu schreiben.
Aber… die Bücher?
Ja, er schrieb von Büchern, gar einem alten Folianten, die er allesamt fand und die einigen Aufschluss zu den Meinen und deren Weggang geben sollten. Die wollte er mitbringen, wenn wir uns auf Steinberg treffen. Nun ist er da… vom Pferde gerutscht… und hatte keine Bücher dabei. Gegessen wird er sie doch nicht…?
Ach was, ich muss mich einfach ein wenig gedulden. Vielleicht, da kenne ich ihn zu wenig, vielleicht hat er alles im Kopf und ich muss mich um diese Dinge gar nicht sorgen?
Lachen… ja, ich habe gut Lachen. Und ich bin froh. An solch einem schönen Tag und dem Ziel meines Tuns hier ein gehöriges Stück näher. Da kann man ruhig und glücklich in die Gegend schauen, sich freuen und auf den nächsten Tag hoffen. Eher, so bin ich mir mehr als sicher, wird wohl nichts zu erfahren sein. Also, genügend Zeit für eine Liebelei am Feuer! Das darf ich Agnes nicht so sagen. Sie wird sonst rot und läuft ganz schnell weg…
Ein Schimmel steht vor mir. Um mich die noch gut im Saft stehenden alten Bäume. Was wird das wohl für eine gute Apfelernte geben, dieses Jahr? Ich kann mir richtig vorstellen, wie dieses Pferd irgendwann durch die blühenden Bäume lief… kaum zu unterscheiden vom Weiß der Blüten. Selbst jetzt hat dies seinen Zauber.
Ja, ich bin ein Schreiberling.
Meine Mutter schon meinte in ihren besten Jahren, dass ich zu oft und zu schnell ins Schwärmen gerate. Natürlich tue ich das, denn ich sehe ja die Welt so, wie sie vielleicht niemand anders sehen kann. Und dann erzählte der Professor Kringer in Leipzig, bei dem ich mich mit der Geschichte beschäftigte, dass ich nur mit solch einer Sprache Andere erreichen kann.
Nun ja, manchmal verlacht man mich. Aber meine Getreuen, die Freunde und die nahen Verwandten, die haben verstanden, dass ich so denke wie ich spreche, und doch ein Mann bin. Und Kämpfen… kann auch ich. Mit den Worten. Manchmal sind die gar eine viel größere Herausforderung…

Halt, da läuft Agnes. Sie schleppt einen Trog.
Armes Mädel! Soll ich herzulaufen und ihr helfen? Nein, schon einmal blitzte sie mich an und wollte gar, dass ich ganz aus ihren Augen verschwinde. Aber sie sucht etwas… sie schaut in meine Richtung und scheint mich nicht zu erkennen. Natürlich nicht. Ich sehe sie nur durch die Blätter, die mich doch sicher ganz verdecken.
Nun, verdenken und verübeln kann sie es mir doch wohl nicht, wenn ich jetzt wie rein zufällig nach oben und zurück zum Herrschaftshaus steige? Ich kann tun und lassen…
Ach, ich tue es.
Noch ein wehmütiger Blick hinüber zur Burg.
Ob mir Calrin wohl eines Tages einmal ermöglicht, dass ich vielleicht einen Fuß dahinein setze? Möglich wäre es ihm sicher. Nur, ich habe Angst, dass ich ihn dann ganz in Ungnade reite und er…
Da, sie hat mich erkannt. Natürlich, denn ich trete aus den Bäumen hervor, ihr entgegen. Und dieses Mal scheint sie mich nicht abzuweisen.
"Hee, Schreiber! Ich kann hier eine kräftige Hand gebrauchen!"
Zu spät fast sehe ich, dass sie diesen Trog wirklich kaum von der Stelle bekommt. Und dabei ist er noch leer.
Schnell stehe ich bei ihr.
"Was habt Ihr vor?"
Sie lacht.
"Nun, der Küster sollte langsam erwachen. Und wenn er das tut, muss er sich baden. Denn in seinem Suffe machte er… nun, ich mag es Euch nicht unbedingt beschreiben!"
Verdammter Narr… Hat er doch wirklich… Und sie erkannte es, will meinen Freund nicht peinlich enden lassen. Gutes Weib!
Gemeinsam schleppen wir den Trog zum Brunnen.
Eine elende Arbeit, dieses Ding mit Wasser zu füllen. Und er kann sich glücklich schätzen, dass wir nicht auf die absurde Idee kommen, auch noch heißes Wasser da hinein zu bekommen. Nein, soll er sich ruhig ein wenig abkühlen. Da kommt der viele Wein ganz aus ihm heraus und, was ich ihm gar nicht gönnen mag, hinterlässt sicher auch keinen zu schweren Kopf.
"Auch er soll das Feuer heute erleben. Ordentlich. Als Gast der Herrschaft, denn es ist Euer Freund!"
Sie hatte sich für ihn verwendet, weil sie mir einen Gefallen tun will. Oh, das ist… ist… ja, es ist süß!

Nun steht der große Trog, flach, aber für diesen Zweck sicher ausreichend, auf dem weiten Platz zwischen den Bäumen, die weit hinunter bis nach Dohna reichen, eben direkt vor dem altehrwürdigen und vielleicht noch meinen Vorfahren bekannten Gutshaus. Ja, dieses ist es, das alte Herrschaftshaus. Eines, das einem Gut würdig scheint. Dem alten Klostergut. Und dabei will das keiner so recht wahrhaben.

Ich schlendere zur Kapelle. Agnes meinte noch verschmitzt, dass es sicher ein lautes Hallo geben wird, wenn wir den Kirchendiener dann baden. Da muss man nicht zu zeitig drauf aufmerksam machen. So will ich ihn wecken und dann mit aller Kraft und, wenn nötig, auch gegen seinen Willen hinüberschleppen zum Trog.
Na, vielleicht muss ich gar nicht zu sehr schleppen? Ja, er rekelt sich und ist fast wach. So ein Faulpelz!
Ich klopfe ihm an den Kopf. Das nun wieder gefällt ihm gar nicht. Natürlich, sicher klingen diese kleinen Schläge wie ein Donnern und ziehen ihm alles in sich zusammen. Ich kenne kein Erbarmen. Wer den Hals nicht voll genug bekommt, der muss das eben auch erdulden. Keine Frage!
Ich lache ihn an. Er zieht die Augen auf und presst sie unter Schmerzen wieder zusammen.
"Licht… ich will nicht…"
Mühsam zieht er seine Hände unter seinem Bauch hervor. Dann schlägt er sie über sein Gesicht und haut sich bei der mehr als schnellen Bewegung auch noch den Kopf an der Kapellenwand ein.
Ein Jaulen. Wie bei einem ins Wasser gefallenen Hund. Zumindest einem, der noch nicht schwimmen kann.
Na wart, ich komm Dir!
Nun greife ich ihm unter die Achseln und versuche mit einem Ruck, diesen Fleischberg nach oben zu ziehen. Oh, wie kann man nur so fressen! Ich ertappe mich dabei, mir vorzustellen, wie er, beim Gottesdienst oder einer anderen Feier in seiner stolzen Kirche drüben beim Markt oder auch oben an der Burg, mit einem Becher Wein für den Organisten hinauf zum Spieltisch kraucht, alles verschüttet und vielleicht gar noch im schmalen Gang, den ich da so im Geiste sehe, stecken bleibt. Wie macht er das?
Ach, ich vergaß… die Kirche verteilt ihre Posten oft fürs Leben. Und wenn man ihnen nicht mehr genügt, hat man doch noch sein Auskommen. Es sei denn, man versündigt sich.
Nein, mit meiner Hilfe wird er das nicht tun, oder?

Jetzt habe ich ihn auf den Beinen. Er stöhnt. Ich lasse nicht ab, schlage ihm noch einmal links und rechts die Wangen. Dann gar auf den Po. Er soll seine schwabbeligen Beine in Bewegung setzen. Hinüber zum Trog, von dem er noch nichts weiß.
"Hab Erbarmen, Freund, hab doch ein wenig Mitleid mit einem dicken, lieben, auch armen Mann!"
Pha… arm… er hat sein Auskommen… und ich nun sein gesamtes Gewicht auf der Schulter. Der Rechten. Der, mit der ich die Feder zu halten habe. Natürlich mit der Hand, aber trotzdem.
Hinunter. Vom kleinen Hügel hinunter auf das Gut und da hindurch. Ein Weg, der mir nun, zum ersten Male seit ich hier bin, eine Höllenqual bereitet und auch noch wie ein Gang zum Ende der doch so guten Welt vorkommt.
Das Ende der Welt…
Ja, immer fallen mir Bilder und Geschichten ein. Wie jetzt.
Die Erde… eine Scheibe. Was man sich nicht noch vor Jahren alles ausdachte! Dabei, wenn man nur ein wenig genauer hinsieht, kann es doch nicht sein, dass man so hohe Berge im Süden nicht von uns aus sieht, wenn alles so flach und eben sein soll.
Nun, ich bin nur ein Schreiberling und gelte nicht als gelehrt.
Auch so ein Unding.
Schreibe ich etwas auf und ein Verleger druckt es mit guter Schwärze, dann ist es ein gelehrtes Buch, eine Weissagung für die Welt, etwas, was man nicht von der Hand zu weisen hat.
Wage ich jedoch, das Wort zu erheben und mich einfach nur in eine Sache zu mischen, zu reden und genau dieselben Worte zu benutzen, die ich sonst schreiben würde, so gelte ich als nicht eingeweiht, zu dumm, eben als ein Schreiberling, der doch nur schreibt, was man ihm irgendwie befiehlt.
Dabei haben viele noch nicht verstanden, dass…
Hoppla…
Ja, prima. Nun habe ich den Fettsack vor mir liegen. Und alles nur, weil ich mich um mich und nicht um diese blöden Steine da vor mir kümmerte. Verfluchte Welt aber auch! Wer schmeißt die denn überhaupt in diesen Weg? War das gar böse Absicht?
Mening sah mich. Er kommt. Auch wenn er mich nicht immer sehr leiden kann… Er hilft.
"Hat er zu viel oder zu wenig?"
Der und zu wenig? Na, man erkennt doch, dass dem wohl nicht so ist! Ich bleibe ruhig, will mir die Hilfe nicht vergraulen und muss auch ein wenig freundlich sein.
Natürlich sah Mening die Agnes nach dem Wein laufen. Er dachte wohl, dass der Herr Schreiberling… und nicht der edle und doch so nette Herr Küster…
Ja, Calrin kennt man hier scheinbar überall. Natürlich. Der Herr Pfarrer, der Abt und auch der Bischof… die verirren sich selten auf das alte Klostergut. Zu frisch sind noch die Wunden, dass man es einst seines Klosters beraubte und dann auch noch der Familie gab, die doch diesen Hof so lange schon im Sinne der Schwarzröcke bewirtschaftete. Da fällt es einem ehemaligen Besitzer eben schwer …
Nein, der edle Herr Bischof aus Meißen hat Altzella nicht mehr erlebt. Dazu ist er zu jung. Auch wenn er alt ist. Doch er sieht sich als Arm, Hand, was auch immer, jedenfalls als etwas von Gott hier drunten an und meint daher, dass der Herzog damals einfach zu frech war und sich in Dinge mischte, diese auch noch durchsetzte, die ihn nichts angingen. Und so kommen weder er, noch sein Pfarrer aus Dohna jemals hierher.
Ein ganzer Hof ohne Gott? Ich stelle mir Sodom und Gomorra vor.
Nein, sicher nicht.
Der Küster ist bekannt, weil man ihn in Dohna zur Sonntagsmesse sieht und er auch hin und wieder, so wie heute, zum Gut reitet und einige Kerzen in der Kapelle ansteckt.
Ein guter Mann. Und mein Freund. Warum eigentlich?

Während Mening sich fast mehr mit diesem Manne abschleppt, als ich, und wir wohl oder übel dem Trog mit der kalten Erfrischung näher kommen, aber wegen der Notdurft, die Calrin unter sich machte, einen Schwarm Fliegen durch die sengende Abendhitze ziehen, denke ich an jene Tage, als wir den ersten Brief tauschten.

Vater sagte mir damals, dass es eben einen Weg geben könnte, um mehr zu erfahren. Calrin entstammte wohl der Familie, die früher schon unter den Donins und Dohnaern die Burgkirchen zu warten hatte, gar diverse Waffendienste leistete. Und dies vergisst man nicht. Nicht in den Jahren. Es ist eine Verbindung. Vom Herrn zum Schaf, von der Burg zu Gott und vom Küster zu seinem Grafen.
Lange trug ich mich mit dem Gedanken.
Venedig… da saß ich am Canal und überlegte lange, ob ich es wagen sollte. Damit man keinen Verdacht schöpfte, ließ ich gar das Schreiben in bestem Latein aufsetzen. Die Sprache der Kirche, die Sprache Gottes. Zumindest in Rom.
Fünf Seiten entriss ich dem Drucker, der sich gerade anschickte, einen Band mit meinen Gedichten zu drucken und unter den feinen Fräuleins der Stadt auf dem Wasser zu verteilen. Die füllte ich alle. Zum Glück reicht mein Latein soweit, dass ich noch einmal schauen konnte, ob denn der Sinn meiner Worte wirklich darin war. Dann half alles nichts. Ich vertraute Gott und schickte mit kaiserlicher Post nach Dohna.

Von Venedig nach Dohna!
Mein Vater hat es nicht mehr erfahren. Er hätte gelacht. Ich weiß es förmlich. Er hätte sich vielleicht gar totgelacht? Nein, aber zumindest ein wenig.
Nichts habe ich erhofft. Eher gar, dass man mir amtlich mitteilen wird, ich hätte einen Kontakt zum Gebiet um Dohna zu meiden. Doch auch das blieb vorerst aus.
Dann, ich kam gerade von einer Reise aus dem Süden des Frankenreiches zurück, wo ich eine kleine Reiseführung zu Papier brachte. Ein schönes Fleckchen Erde. Gerade um Volonne. Ich kam also zurück und mich erwartete bei meiner sonst immer sehr neugierigen Wirtin ein ungeöffnetes Schreiben aus dem Reich.
Ja, ich erkannte, was sie am Öffnen hinderte. Nichts anderes, als die Anrede. Man schrieb dem vormaligen Burggrafen von Dohna und anerkannten Literaten, kundig des schönsten Schreibens und bekannt in der Welt.
Natürlich, das war der Alten einfach zu viel. Wie auch anders? Sie musste doch annehmen, dass ich während meiner Reise gestiegen sei und sie mit ernster Strafe zu rechnen hatte, wenn sie dann vielleicht ein Geheimnis erfuhr, was nicht für sie bestimmt zu sein hatte.
Nun, ich fand, dass es ihr gut tat. Nicht einmal die Brieflein meiner Verehrerinnen hatten bisher ungeöffnet ihr Ziel erreicht und ich nahm auch an, dass sie den Postmann bestach, dann gar noch meine Antworten zu Gesicht bekam. Doch jetzt war es anders.
Aber die Neugier blieb…

Als ich in meiner Kemenate saß und in Ruhe las, bekam ich Wein und kleine Brote gereicht. Immer mit einem sturen Blick auf das Papier, welches vor mir lag. Jedoch... mein getreuer Calrin machte es wie ich. Er schrieb ebenfalls in Latein. Und das, gottlob, konnte die Alte nicht. Zumindest nicht über Kopf lesend.
Ich grinste und genoss zweierlei… ihre Fürsorge und den Inhalt des langen Schreibens.

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