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     und Foto: Stefan Jahnke

 

Leseprobe - Qualquell

 

Kapitel 2 - Trübsinnige Stimmung (Auszug)

...

Ein paar Stunden rollen wir schon gen Saalfeld. Sarah sitzt neben mir und hört ihre Musik im MP3-Player. Ich versuche, mir die Verkehrsmeldungen nicht zu sehr nahegehen zu lassen. Es soll noch eine Weile dauern, ehe wir ankommen. Nicht der nächste Weg.
"Papa, muss ich da in die Schule?"
Na, Mädel, was denkst Du denn? Natürlich musst Du. Und das Ganze hat nicht nur mit dem Fall, sondern vor allem mit Disziplin und der viel beschriebenen deutschen Schulpflicht zu tun.
Sie sieht etwas genervt herüber zu mir. Ich zähle die letzten Meter Autobahn. Dann muss ich gut und gerne noch eine Stunde über Land. Kann ja heiter werden. Dabei spricht man von einem Industriestandort… irgendwann sah ich mal diese alten Plakate vom Beginn der DDR-Zeit… ‚Max braucht Wasser!' Damals ging es wohl um die Maxhütte in einem Ort namens Unterwellenborn. Ja, ein wenig musste ich mir das Gebiet im Internet ansehen. So ganz ohne Wissen dahin fahren… mache ich nicht mal bei einem Kurzurlaub.

Klick… nun wird sie mich erst einmal ignorieren. Der iPod ist an und sie schwebt in der Welt ihrer Musik. Damals habe ich ihr noch die ersten Titel selbst draufgespielt, mich aufgeregt, dass man zum Gerät nicht einmal eine Installations-CD bekam und gut einhundert Megabyte aus dem Internet laden musste. Dafür klappte dann alles hervorragend mit dem ersten ‚Betanken'. Heute tauscht sie die Musik mit ihren Freunden, in der Schule oder übers Internet. Ich glaube, wenn meine IP-Adresse zuhause nicht für sämtliche Datenspeicherung gesperrt wäre, hätte ich schon einigen Ärger bekommen. Tauschbörsen… Na ja, da kann man doch als Vater reden, wie man will. Dem treuen Kuhaugenblick des Töchterleins entgeht man nicht und sperrt doch die entsprechenden in der Presse stehenden Ports nicht wirklich. Reiner Selbsterhaltungstrieb! Dafür hat sie eben genug Musik, auf ihrem kleinen Gerät. Muss man sich ja hüten, dass das Ding nicht zerbricht… so klein, schmal, dünn… na ja.

Hoppel… ein Schlagloch… noch eines… und wieder. Ich denke, das ist eine Bundesstraße? Ja, der Winter war hart. Aber das hier, das ist eher… schon wieder denke ich an den Mond mit seinen vielen Kratern. Ja, hat schon etwas davon.
In Gedanken sehe ich Neros am Straßenrand stehen und mir winken. Nicht ein Wort sprach mein Chef… Man kann fast schon sagen, mein Exchef… Ich schickte ihm dann nach dem kurzen und kühlen Anruf nur die Dokumente zu und er reagierte nicht einmal darauf. Er wolle mich anrufen… Na ja, diese typische Rede, die wir immer wieder selbst benutzen… ‚don 't call us, we call you!' Lustig und erschreckend zu gleich. Ich sollte mich zumindest nicht daran halten. Wenn ich seine Unterstützung brauche, rufe ich ihn auf jeden Fall an.
Schon wieder diese Löcher. Ich hasse das. Und der Gegenverkehr… Na ja, was will man erwarten.
Rumms… wir stehen in einem Loch. Und da kommt das Nächste. Ich sollte erst einmal rechts ranfahren und den Hauptstrom vorbeilassen. Hinten scheint es etwas dünner zu werden. Dann kann ich besser ausweichen. Hoffe ich.

Der Neros… in seinem spartanisch eingerichteten Büro wirkte er fast sympathisch. Und doch ist da diese alte Abneigung zwischen der normalen Polizei, dem Land und dem Bund. Die Kanzlerin steckt nicht dahinter.
Neben uns steht ein Dixi-Häuschen. Sarah geht dahin. Sie hasst diese Dinger. Hat sie mit Beate gemeinsam. Die konnte fast nicht dahin gehen… wie auch nicht auf die Plumpsklos in einigen Almhütten. Inzwischen baut man die Alpen immer mehr zum Touristenmagneten aus und ich habe den Eindruck, da eher in Viersternehotels zu kommen, als in eine alte Hütte, in der wirklich mal gearbeitet wurde. Dabei war das in Kärnten vor einem Jahr noch gänzlich anders. Aber diese Häuschen sind zumindest eine Notvariante, wenn gar nichts mehr geht. Und wenn man eben auf der Autobahn vergisst, mit Papa zu reden, dann muss man… Ich glaube, ich denke zu lange über diesen Quatsch nach!
Plakate. Da stehen Plakate und auch einige Spruchbänder hängen in der Gegend herum.
‚Keine Autobahn' und ‚Unsere Kinder wollen auch noch einen Baum sehen' Das klingt nach Ärger. Werde Koller fragen, was man an der Strecke plant. Der Zustand, hier nur über eine Landstraße… na ja, Bundesstraße eben… über so etwas nach Saalfeld zu kommen, der ist nicht in Ordnung. Ich sehe laufend kleine und größere Betriebe an der Straße… Die müssen doch auch irgendwie liefern. Glaube ich zumindest ganz fest. Wie soll das aber gehen, wenn… Na ja.

Eine halbe Stunde später rollen wir wieder. Kein Auto zu sehen. Entweder, jetzt ist hinter uns irgendetwas passiert, oder aber die Autobahn spuckt gerade keine Fahrer mit Ziel Saalfeld aus. Gut, auch in Ordnung. Ich brauche Platz… und jetzt gerade, wo vor uns ein kleiner Anhänger mit Warnblinkanlage am Straßenrand steht, dahinter ein Mopedfahrer zu sehen ist, der irgendetwas einzuladen scheint, denke ich wieder an Schwalm und Peters… Diese Ganoven! Ich muss mit Sarah sprechen… Internet ist nicht gut für sie… für niemanden wahrscheinlich. Aber ich weiß schon jetzt… das ist ein verdammt harter Brocken. Die wachsen doch wirklich schon damit auf, können sich ein Leben ohne Wikipedia und diese ganzen anderen Plattformen nicht vorstellen… und schreiben ab. Bis hin zu den Ministern. Oh weh, wie meinte jetzt ein Bibliothekar einer anerkannten Universität? Man musste aus urheberrechtlichen Gründen einige Medizinjournaljahrgänge in der elektronischen Leihe sperren und nun beschweren sich Mediziner in namhaften Krankenhäusern, nicht mehr unkompliziert während der OP dort nachschlagen zu können. Na ja, die Vermutung, dass man nun bei Wikipedia suchen wird und dann vielleicht einige Blinddarmoperationen am Kopf durchgeführt werden, ist doch hoffentlich nur eine spaßige Deutung.

Noch zehn Kilometer bis Saalfeld. Die Straße ist gut ausgebaut. Hier könnte man schon wieder daran denken, eine Autobahn für überflüssig zu erklären. Aber das ist eben immer so eine… na ja, sollen die sich doch bitte ihre Lösung selbst ausdenken.
"Papa, wo wohnen wir denn?"
Koller meinte, dass es eine Pension gebe, die er nur empfehlen kann. Ich kenne hier nichts. Und wenn es nicht geht, dann können wir uns immer noch was anderes suchen. Auch wenn die Besucherzahlen sicher wieder gestiegen sind, wird wohl nicht alles belegt sein? Und Rudolstadt, aber auch die angrenzenden kleinen Orte und Flecken, die haben sicher noch einige Zimmer frei. Für uns ausreichend. Außerdem kann sogar hin und wieder ein kleiner Umzug nur gut sein.
Ortseingang… Gedanken weg. Ich bin auf Koller gespannt. Im Gegensatz zu Sarah und ihren Freunden sitzen wir nicht ständig vor Skype und sehen uns beim Telefonieren in die Augen. Wie sah er aus? Ich habe da eher ein schemenhaftes Bild… aber er wird mich schon erkennen. Spätestens, wenn ich in seinem Büro stehe.
"Müssen wir gleich zur Polizei?"
Ja, natürlich. Ist doch unser Ziel, oder?
Sarah sieht genervt aus. Erst meine Einwürfe und nun das. Trotzdem lasse ich mich vom Navi in die richtige Richtung treiben. Bei den recht neu aussehenden Straßenverläufen ist es fast ein Wunder, dass alles drin zu sein scheint. Wer hatte denn…? Ach, ja… Sarah… die machte mal ein Update. Meinte zwar, dass sie auch das Nächste machen müsse… weil es da wohl Probleme mit dem Server gab … na ja. Und nun haben wir neue Karten drin, ohne was dafür bezahlen zu müssen. Die Jugendlichen… haben alle immer wieder eine neue Überraschung für uns Alte.

Der Audi steht vor einem hohen Gebäude. Präsidium kann man das hier sicher nicht nennen. Wundert mich auch, dass Koller sich in so etwas wohlfühlt. Aber er war ja immer ein wenig anders, als wir alle zusammen. Warum dann nicht auch bei dieser Sache?
"Zum Kommissar Koller? Hauptkommissar, bitte, ja?!"
Der Beamte am Einlass hat ein wenig den Touch eines NVA-Mannes in den aktuellen Filmen. Er ist trotzdem freundlich.
"Ich melde Sie an. Wen darf ich…?"
Ich reiche meinen Ausweis herüber. Den von Neros. Und gleich nimmt der steife kleine Mann noch ein wenig mehr Haltung an.
"Nur einen kurzen Moment… wollen Sie vielleicht da Platznehmen? Und Ihre Kollegin… darf ich Ihnen etwas bringen? Kaffee? Wasser? Nein? Gut, ich melde Sie sofort an. Soll ich auch Herrn Polizeirat Ballenstedt mit informieren? Nein? Nun, das wird Herr Hauptkommissar Koller sicher dann später noch nachholen… wie Sie… kleinen Moment bitte!"
Er weist uns in seiner doch für den Betrachter recht lustigen Art in einen kleinen Raum mit einem Tisch und vier Stühlen. Da haben wir… keine Aussicht, keine Ruhe und… na ja, wir haben ja heute noch nicht gesessen. Meine ‚Mitarbeiterin' kichert in sich hinein und schaltet den iPod wohl noch ein wenig lauter.
Sarah… meine Kollegin? Na ja, der Mann hat Humor… oder eben einfach gerade eine gewisse Unruhe. Was ein BKA-Ausweis in Frankfurt auslöst, wird hier sicher noch verzehnfacht, oder?
Es vergehen nur wenige Minuten, dann klopft es zaghaft an der Tür.
"Herr Hauptkommissar Koller ist gerade verhindert, erst in einer Stunde zur Verfügung. Darf ich vielleicht doch den Herrn Polizeirat…? Er ist im Hause und wäre wohl auch zur Verfügung."
Klar, der hat dem doch schon meine Ankunft gesteckt, oder? Ich nicke. Wenn ich jetzt mit Sarah eine Stunde hier herumsitzen soll, kann ich mich auch mit dem hiesigen Chef auf Augenhöhe unterhalten. Soviel Zeit muss sein.
Noch einmal mustert der Beamte Sarah, die sich wirklich recht weiblich gibt, und er scheint mich zu bewundern, gar zu beneiden. Na ja, auf meine Tochter kann ich auch stolz sein. Selbst, wenn er seine Gefühle mehr in Richtung ‚der hat eine tolle Kollegin' legt.

Es dauert nur fünf Minuten, dann kommt der Polizeirat persönlich.
"Hallo und guten Tag, willkommen in Saalfeld, Herr Polizeirat!"
Ich mag es nicht, wenn man sich in derselben Ebene immer noch mit dem Dienstgrad anspricht. Aber hier scheint das so üblich zu sein… oder es hat wieder was mit dem BKA…?
"Was führt Sie zu uns?"
Der kennt meinen Namen nicht. Hat Koller die Sache mit der Amtshilfe allein entschieden? Dann säße er jetzt sicher ganz schön in der Klemme. Hoffe ich doch nicht, oder? Ich berichte von dem Ersuchen. Was soll ich denn sonst tun. Natürlich weiten sich die Augen meines Gegenübers, der sicher nur vergaß, uns in sein Büro zu bitten und nun schwer auf einen der Stühle in dem kleinen Besucherraum sinkt.
"Aber… Koller meinte doch… na ja, das BKA… das hat er nicht erwähnt. Ich nahm an, dass Sie in der Polizeidirektion in Frankfurt arbeiten, oder?"
Was soll ich sagen? Keine Erklärung. Ich winke nur ab, lege die entsprechenden Papiere auf den Tisch und verursache damit natürlich nicht gerade einen Schwall von Sympathiekundgebungen. Ich übernehme den Fall und fordere alle Unterstützung, die ich auch nur bekommen kann.
"Wie stellen Sie sich das vor? Es liegt sicher nicht an der Führung… das können wir auch. Und außerdem hat das doch keine Relevanz auf Bundesebene, oder? Warum sollten wir dann mit Ihnen zusammenarbeiten? Das ist unser Fall."
Ja, das erwartete ich. Doch ich kenne eine Ausrede.
"Was meinen Sie, wie Thüringen und Deutschland innerhalb der EU dastehen, wenn wir hier eine Serie von mysteriösen Selbstmorden haben, die auch noch lauter junge Mädchen betrifft? Das allein ist doch schon ein hinreichender Grund, die ganze Angelegenheit auf Regierungsebene zu besprechen. Und das BKA sagt ja nicht, dass Sie den Fall verlieren… Sie rücken nur ein wenig zur Seite und ich leite die weiteren Ermittlungen, stimme mich mit Ihnen ab und greife auf Ihre Soko zu. Ach ja, Sie haben doch eine Soko, oder?"
Der Blick verrät mir, dass ich jetzt eine wunde Stelle angesprochen habe. Verdammt… was machen die hier?
"Die Fälle… wir haben keinen konkreten Zusammenhang. Und auch, wenn Hauptkommissar Koller das alles bearbeitet… er findet immer noch keinen triftigen Grund, eine Soko zu gründen. Es sind, mit Verlaub, eben einzelne und sehr unglückliche Fälle. Außerdem… Die Abstände werden größer … wurden. Jetzt waren es nur zehn Wochen, der Kürzeste vorher betrug acht. Ansonsten… fünf Selbstmorde mit diesem Gymnasialcharakter in reichlich zwei Jahren. Im ganzen Raum Saalfeld-Rudolstadt haben wir noch gut zehn weitere… unterschiedliches Alter, mal mit tragischem privaten oder auch mit beruflichem Motiv. Aber eben noch mehr, als diese Mädels. Manchmal meine ich wirklich, Koller sieht da Gespenster. Ich will ihm das ja nicht ausreden. Aber ich bin vorsichtig. Ist besser, als wenn ich dann mit ihm gemeinsam in die Irre renne… Da kann ich ihn dann immer noch rausholen, wenn ich es erkenne."
Koller hat einen schweren Stand. Das war mir klar. Aber dass ihm nicht einmal der eigene Chef glaubt…? Machtspielchen. Sicher!
Nachdem Sarah sich sicherlich schon zum vierten Male seit unserer Abfahrt ihre Liedchen durchgehört… ach nein, diese Dinger von MP3-Playern können ja Stunden voller Musik aufnehmen und damit kann man gar tagelang ohne eine Wiederholung leben.
Koller kommt jedenfalls jetzt herein.
"Mensch, Wolf, dass Du es doch noch… Oh, Herr Polizeirat… ich wusste nicht, dass Sie hier sind. Entschuldigung. Aber ich hatte bis eben zu tun und muss jetzt auch gleich wieder weiter. Macht es Dir war aus, Wolf, wenn ich in zwei Stunden zu Dir stoße? Meine Sekretärin hat alles da… Adresse der Pension und einige Unterlagen. Besonders zum neuen Fall. Da hast Du ja noch… hoppla… was ist denn das?"
Etwas erstaunt schaut er auf den Tisch. Da hatte ich schon beim Hereinkommen meine Akte von Neros abgelegt und aufgeschlagen. Dem Rat war das nicht aufgefallen, wohl aber Koller.
"Sag mal, das mit dem BKA… stimmt das?"
Er sieht mich skeptisch an. Ja, selbstredend stimmt das. Und ich nicke nur, was ihm genügt.
"Na, dann plane mal für heute Nachmittag nichts weiter ein. Ich fahre mit Dir zu den einzelnen Plätzen und gegen fünf haben wir einen Termin im Gymnasium. Die Schulleiterin ist zwar nicht daran interessiert, diese Sache mit ihrem Haus in Zusammenhang … na ja. Da die Schüler da nur noch in ein paar AGs sind, geht das schon und sie stimmte zu. Also… in ein paar Stunden… ich denke, gegen zwei, ja?"
Ja, klar… was bleibt mir übrig.
Koller nickt Sarah zu, sieht kurz zu Ballenstedt und verschwindet. Ich komme mir vor, wie in einem falschen Film. Der Chef bleibt außen vor und unternimmt nichts. Liegt vielleicht daran, dass Koller die Freundschaft mit mir auskosten will. Und da ich in diesem Fall nun das Sagen habe… na ja, da muss es wohl wirklich einiges Hin und Her geben. Ich schweige dazu. Werde ich schon noch erfahren… irgendwann. Bis dahin richten wir uns in der Pension ein.

Ballenstedt, der nicht ein Wort nach Kollers Abgang über das Gesagte erwähnt, zeigt uns fast schweigend das Büro und die Sekretärin meines Kollegen und Freundes. Sie spielt zumindest die Erfreute und reicht mir einen Bogen. Sind einige Telefonnummern drauf und die besagte Adresse.
"Sie müssen nur aus dem Ort raus. Ist herrlich ruhig dort. Eine kleine Pension mit Gaststätte. Ich habe Ihnen eine der Ferienwohnungen gebucht. Ist schon für drei Wochen bezahlt. Und der Bauernhof drum herum ist auch ganz nett… Sie fahren also immer den Berg hoch. Nicht von den Wegweisern zu den Feengrotten verwirren lassen… und durch Arnsgereuth hindurch, dann kommen Sie an zwei links abgehende Straßen… eine vor dem dortigen Hotel und eine danach. Die nehmen Sie. Nach Lositz. Immer den Wegweisern nach. Ist ein Ponyhof, heißt auch ‚Gasthaus zur Linde'. Wird Ihnen gefallen. Sonntag gibt es Klöße und ansonsten wird auch für alles gesorgt. Die Ruhe allein macht es schon. Der Herr Hauptkommissar wollte unbedingt dieses Quartier für Sie!"
Ich danke. Sarah hat gar nicht zugehört, sondern nur etwas verstört auf die Wand gestiert, die neben uns steht. Die gleichen Bilder, wie in meinen Unterlagen. Nur noch mehr… und einige Ansichten, die nicht gerade jugendfrei sind. Aber sie scheint sich davon zu erholen.

Im Wagen ist sie still. Ich grüße noch den Beamten am Empfang… der wollte unbedingt sehen, dass wir auch das richtige Auto nehmen und als ich ihn fragte, in welche Richtung wir nach Arnsgereuth kommen, zeigte er es mir gleich.
Die Straße windet sich eine Weile den Berg hinauf. Im Winter, und der ist noch nicht ganz zu Ende, da kann es hier sicher recht glatt werden. Die Streusandkisten und die eine Notspur für Lkws mit defekten Bremsen sprechen für sich.
Ich finde den Abzweig und nach noch ein paar Kilometern durch eine herrlich bewaldete Einöde liegt Lositz vor uns. Verschlafen, verträumt, gut zum Erholen. Ich stelle mir gerade vor, wie man hier wohl abends ankommt und früh gut gestählt und ausgeschlafen wieder an die Arbeit geht. Typisches Urlauberdenken. Dabei habe ich alles andere vor, nur eben nicht, Urlaub zu machen.
Etwas genervt sehe ich zusammen mit der Wirtin auf die Karte. Das bedeutet also auch, dass Sarah jeden Tag mit dem Schulbus zur Schule muss. Gut, nicht so schlimm… schafft sie schon. Aber wenn mal was ist…?
"Ach wissen Sie, das passiert hier eigentlich selten. Die Gemeinde tut alles dafür, dass der Berg frei ist und dann kommen Bus, Bäcker, Fleischer und Müllabfuhr auch durch. Zumindest, wenn sie es wirklich wollen. Da hatten wir…"
Ich höre nicht weiter zu und gehe hinauf zu Sarah, die unsere wenigen Habseligkeiten schon ausräumte, mir Kaffee kochte und sich eine Cola genehmigt. Woher sie die hat? Die Wirtin gab sie ihr. Wird angeschrieben und einmal in der Woche gibt es die Rechnung. Na, dann sollte man Bargeld dabei haben, oder?
Ich grinse in mich hinein. Ja, ich denke nur ans Geld. Doch jetzt gehe ich die Akten noch einmal durch. Bis es an der Tür klopft. Bei der Stille hier… vom leisen Gedudel von Sarahs MP3-Player mal abgesehen, da erschrecke ich bei diesem Ton schon.
"Sie sind von der Polizei, ja?"
Die Wirtin. Sie bringt selbstgebackenen Kuchen. Scheint hier üblich zu sein. Einladung, Gastfreundschaft… Das ist in der Großstadt nur noch gegen Aufpreis zu bekommen. Hier ist es eben… nett.
Ich will die Frau nicht beunruhigen. Ihr Blick scheint meine Akte schon erfasst zu haben.
"Die Mädels? Haben die doch was miteinander zu tun? Sie müssen wissen, meine Tochter ging auch mal auf das Arlt-Gymnasium. Die erzählt immer von den einzelnen Lehrern, wenn wieder einer im Radio, im Fernsehen oder in der Zeitung zu Wort kommt und behauptet, dass es nichts mit der Schule zu tun haben kann. Dabei meint sie, dass einige dort schon komische Leute waren… Lehrer eben. Ein wenig weltfremd… kennen Sie ja."
Das Gymnasium ist eines von drei in Saalfeld und direkter Umgebung. Dann geht es in Rudolstadt weiter. Und genau an einem… das ist schon eigenartig.
"Was ist das denn für ein Wohngebiet, dieses Garnsdorf?"
Die Wirtin schaut mich an.
"Die Schule liegt da aber nur am Rande… Ach ja, die Mädels kamen wohl alle von da. Na ja, es gibt alles… Neubaublöcke… diese aus den siebziger und achtziger Jahren. Und natürlich auch die kleinen Häuser. Keine Höfe. Das ist vorbei, seit man das alles zu Saalfeld gezogen hat. Damals wurde einiges abgerissen und neu bebaut. Sind aber fast alles diese typischen DDR-Häuschen. Mal was Älteres oder auch Neueres dazwischen. Selten… na ja, kennen Sie, gelle?"
Thüringer.
Ich muss durch das Gebiet fahren. Der Koller wird mir die Hauseingänge zeigen. Das kann auch Aufschluss geben. Nur das Gebiet, die Schule… das macht doch keine Selbstmörder, oder? Meist gehört dazu mehr… Mobbing zum Beispiel. Verrückte Sache… Man macht Menschen fertig, ohne sie direkt anzugreifen. Und die Schule werde ich sehen, natürlich die Direktorin.
"Sie haben also auch was mit der Sache zu tun… Nun, sind sicher ein Spezialist, oder?"
Ich lache, sage aber nichts weiter dazu. Nur eben… Unterstützung und so. Sie lächelt und versteht, dass ich nicht will. Dann geht sie, und Sarah und ich lassen uns den Kuchen schmecken. In Frankfurt hätte ich ihr nicht einmal ein einziges Stück hineindrängeln können… Figur und so. Aber hier? Nun isst sie gleich zwei ganze und einen Teil von meinem einen… ich kann nicht. Weiß auch nicht. Habe nur gefrühstückt. Und doch… Da wird sich doch wohl keine Grippe aufmachen, mich zu ärgern, oder? Nein, sicher nicht. Ich brauche nur einen Überblick. Dann geht es mir besser.
Gegen zwei klingelt mein Handy. Die Verbindung ist abgehackt, aber ich erkenne Kollers Stimme.
"Bin schon in …gereuth. Könnt euch anzie… Ich komme u… hole Euch ab."
Nein, Sarah muss nicht mit. Sie wirkt genervt, will sich am liebsten im linken Zimmer aufs Bett werfen, nur noch schlafen oder eben ausspannen. War doch viel. Sie ist stark… aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Der Schwalm hat das alles überschritten… mit seinem zweiten Auftritt sicher weniger, als… na ja.
"Sarah bleibt hier!"
Koller scheint nichts dagegen zu haben. Sie will sich den Hof ansehen. Immerhin heißt das Ding ‚Ponyhof' und noch ist kein Pferd zu sehen gewesen. Kann ich verstehen. Auch wenn sie nie den Drang verspürte, Reiten lernen zu wollen… Mädels und Pferde… Ich glaube, so ganz richtig vergeht das nie, auch wenn die Karrierefrauen es dann überspielen. Oder eben übertreiben und sich gleich einen ganzen Pferdehof kaufen, mit dem sie früher oder später aus den verschiedensten, aber meist der eigenen Unkenntnis zuzurechnenden Gründen pleitegehen.
"Viel Spaß. Und erzähl mir, wie diese Schule ist. Ab wann muss ich dahin? Nächste Woche, ja?"
Ich werde es mit der Schulleiterin besprechen. Gut, dass Sarah mich daran erinnert. So kann ich gleich noch die Unterlagen von Ralle und Moser einpacken. Kann in gewissen Situationen ein Wunder bewirken. Hoffe ich zumindest.

Vor der Pension hupt es. Ich sehe einen A4, ganz in Schwarz. Kann nur Koller sein. Typischer Dienstwagen in dieser Ebene.
Ich steige hinunter.
"Sarah bleibt hier, schaut sich um. Hier, meine Handynummer, falls irgendetwas sein sollte. Ich bin ja nicht weit…"
Die Wirtin lächelt und schüttelt gleichzeitig den Kopf.
"Was soll denn sein?"
Ja, wenn sie wüsste… besser nicht, oder?

Koller wartet. Er sieht mich an, als wenn ich ein Außerirdischer wäre.
"Hier kann man nicht den ganzen Tag im Anzug herumlaufen. Die Leute haben was gegen diese Typen… Wendestress und so weiter. Verstehst Du?"
Ja. Aber ich ziehe mich jetzt nicht um. Und Koller in Jeans und Lederjacke schüttelt noch einmal den Kopf. Dann startet er und beginnt auf der Rückfahrt nach Saalfeld zu berichten. Nicht von den Fällen, sondern davon, wie man momentan mit ihm umgeht.
"Ich habe das nur gemacht, weil ich nicht weiterkam. Doch was meint Ballenstedt? Ich wüsste wohl nicht, wie man den Dienstweg einzuhalten habe. Das BKA einzuschalten, wäre eine ganz große Dummheit und ich würde mich noch wundern, was ich damit losgetreten habe."
Losgetreten. Mich interessieren diese Machtsachen nicht. Und wenn ich dieses Gesuch abgelehnt hätte… Besser für Sarah konnte es nicht laufen, oder?
"Ich weiß nicht… Ballenstedt und einige andere, die Euch gesehen haben, die denken alle, Du kommst gleich mit der ganzen Staffel und die Sekretärin ist die Vorhut. Ich hüte mich, denen was anderes zu erzählen… aber Sarah… warum hast Du sie mit?"
Ich berichte und sein Gesicht wird weiß.
"Kann ich… mein Gott… das kann doch… na ja… ich hätte wohl das ganze Magazin… aber wirklich… und das BKA hat Dich quasi gleich danach angeworben?"
Ja, begreife ich auch noch nicht so ganz. Aber ich muss nicht alles wissen… Es reicht, wenn ich damit klarkomme, oder?

Eins fix drei sind wir den Berg hinauf und wieder hinunter, sehen schon die Einfahrt nach Saalfeld und biegen zur Schule ab.
"Da, das ist das Wohngebiet!"
Wir fahren an den einzelnen Eingängen vorbei. Nein, das hat nichts Gleiches. Es gibt wirklich heruntergekommene DDR-Bauten, ebenso welche, die schon top saniert wurden. Und die kleinen Häuser… alle anders. Groß und Klein, neu und alt. Na ja. Und wenn ich nun noch die einzelnen Wohnlagen der Opfer ansehe… Auch nichts Gleiches. Diese Anke lebte in einem… wir sagen immer ‚Milieu' und meinen… na ja. Und die Melanie… das Haus sieht verlassen aus.
"Richtig. Die Eltern zogen fort. Ist nun ein halbes Jahr her. Die hielten es nicht mehr aus. Ist zu schlimm… Du gehst aus dem Haus, siehst den Baum, auf den sie geklettert ist, dann auch den Spielplatz, den Laden, wo sie mal das erste Mal allein einkaufte und so weiter. Da musste ein Ortswechsel her. Ich weiß aber, dass zumindest der Vater sofort kommt, wenn er uns helfen kann. Er glaubt heute noch nicht an eine Tötungsabsicht seiner Tochter. Sicher hat er genauso Recht, wie ich. Nur die Rentner wohnen noch drin. Stille Leute."
Ja, sicher. Abwarten. Die anderen Wohnungen sind einfach, aber nicht schlecht. Alles vertreten. Außer den Superreichen.
"Oh, die suchst Du hier vergeblich, Wolf. In Saalfeld gibt es entweder die, die ganz unten sind, oder eben die, die gerade gut über die Runden kommen. Die Überflieger ziehen fort… Erfurt, Weimar und so weiter. Einige nach Berlin."
Ja, wenn es auch keine Autobahn gibt…
"Oh, lass das mal lieber, ja? Darauf ist hier niemand wirklich gut zu sprechen. Zu schlimme Auswüchse. Gab schon Prügeleien zwischen guten Freunden, nur weil dieses blöde Ding an den falschen oder eben richtigen Stellen gebaut werden soll. Zum Glück fehlt noch ein wenig Geld. Aber Du weißt ja… Das wird irgendwann. So richtig eingestampft wurden solche Anbindungen bisher nie. Egal, wie lange sie auch dauerten…"
Traurig.
"Komm, ich zeige Dir die einzelnen Stellen. Nur in Melanies Haus kann ich nicht rein. Aber da stell Dir mal bitte vor… sie hüpft… na ja, die Nachbarn unten drunter… die hörten es eben. Und dann ein Plumps… Rumms… und Ruhe. Für immer. Die Sicherungen flogen nur in der Wohnung raus. Wie die das überhaupt ausgehalten haben, drinzubleiben, bis Melanie in der Schüssel landete… Die Elektrofirma verteidigt sich mit einer Fehlfunktion. Normalerweise müsste alles rausfliegen, wenn man ein Kabel blank ins Wasser wirft. Hier aber aus irgendeinem Grund nicht. Man konnte auch an den Sicherungsautomaten nichts feststellen. Keine Manipilation... Egal… Anke dann machte es ohne Strom. Schlimmer. Wirklich!"
Wir sind schon wieder aus der Stadt heraus. Ich höre das Tosen eines kleinen Flusses.
"Darf ich vorstellen… die Saale. Schön, nicht?"
Ja… wenn man nicht weiß, was in ihrer Umgebung geschieht, kann man sie wirklich als 'schön' bezeichnen.
Da vorn ist eine kleine Brücke. Koller hält darauf zu und wir parken auf einem Kiesplatz.
"Wanderer sitzen hier manchmal stundenlang am Wasser. Ist schön. Nur eben nicht an diesem Tag damals. Komm. Da geht es hinauf auf die Brücke."
Sie ist gebogen. Ich versuche, die Breite aus der Ferne anzuschätzen. Radfahrer sollten absteigen. Ist schmal und es gibt einige Unebenheiten auf den Brettern.
"Ja, das meinten die von der Spurensicherung auch. Aber… na ja… daran ist sie nicht gestorben. Zumindest darin sind sich alle einig. Ist auch schwer, über diesen über einen Meter hohen Handlauf zu fallen, wenn man an einem Brett abrutscht… nicht einmal die verrückteste Simulation gibt dazu was her. Ist ja auch eine… na ja."
Ja.
Ich stehe genau an der Stelle, wo sie sich abgestoßen haben muss. Acht Meter… Ziemlich hoch, für so ein Flüsschen.
"Du weiß gar nicht, wie die Dinger anschwellen, wenn wir richtigen Schnee hatten und es dann taut… Eiszeit. Gesehen? Jetzt taut's? Aber sie hat so einen Moment nicht abgewartet. Drüber und runter. Geht eigentlich nur, wenn man es auch will. Sie hatte keine anderen Spuren… Druckmahle oder so… Nichts. Nur eben… na ja, ich sagte es ja schon. Verfluchte Sache eben."
Die Steine unten wirken von hier oben hart und spitz. Ich lasse Koller stehen, gehe hinunter.
"Finden wirst Du nichts mehr. Glaube ich zumindest. Aber es war damals hier."
Ich stelle mir die Bilder vor. Habe sie gerade nicht dabei. Immerhin… kommt mir bekannt vor, diese Gegend. Das Mädel… ich schaue nach oben, sehe Koller winken… das Mädel steht da oben und springt.
"Hatte sie eine Schwimmstufe, einen Schwimmerpass. Irgendetwas, was sie mit Wasser umgehen ließ?"
Ich muss schreien, um verstanden zu werden. Koller überlegt.
"Ich glaube, irgendwo… Moment, da rufe ich noch einmal an."
Ich stehe und sehe mir die Steine weiter an. Das kann nur tödlich oder mit starken Verletzungen enden. Kann sie fast froh sein, dass es vorbei war… Wer weiß, was sie alles erdulden müsste, wenn sie das irgendwie mit Lähmungen überlebt hätte. Wer sich einmal umbringen wollte und davon einen bleibenden Schaden behält, der wird doch sicher alles daran setzen, sich wieder und wieder umzubringen. Bis es eben klappt. Nur die werden geläutert, die wirklich mit einem blauen Auge oder einem kleinen Bruch davonkommen, sich also noch ein wenig besinnen können und erkennen, wie schön doch das Leben ist.
Leben… es sich nehmen? Nein, das ist zu verrückt. Ich kann… Na ja.
"Hallo, Wolf, ich habe es… sie hatte Höhenangst und auch Angst vor Wasser. Nein, gewaschen hat sie sich. Aber ansonsten… kein Schwimmbad, erst recht kein Urlaub am Meer… nicht mal ein toller Pool mit Kinderbecken. Sie wollte kein Wasser und keine Berge, nichts Hohes und nichts Tiefes. Verrückt, nicht?"
Ja. Zumal sie hier von etwas Hohem in was Tiefes beim Wasser gesprungen ist. Mysteriöser geht es kaum.
Ich denke noch einmal nach… na ja, muss ich das sagen? Nein, ich denke immer. Nur gerade versuche ich, meine Gedanken zu ordnen, und habe doch bei diesem verrückten Stand arge Probleme damit.
Sprung… in die Tiefe… und dann?
"Die hat das nicht gewollt. Wie stand sie in der Schule? Hatte sie da Feinde? Konnte sie sich behaupten? So, wie sie auf dem Foto aussieht, war sie sicher eine Art Paradiesvogel, oder? Das ist doch in Eurer Gegend hier auch nicht gerade häufig, nicht wahr?"
Koller grinst.
"BKA. Klar… Mann, ich bin froh, dass Du da bist. Genau diese Fragen … einige davon zumindest… die habe ich auch gestellt. Aber niemand wollte sie hören. Ich wäre nur überlastet und würde nun einen Ausweg aus der Misere suchen. Aber wenn sie sich umbrachte, wollte sie es auch."
Ja, klar… sie wollte es.
"Komm, fahr mich zum Haus von dieser Carmen. Ist das weit? Die hat sich doch am Schornstein… Hatte die auch Höhenangst?"
Niemand scheint darauf eine Antwort zu kennen. Darum drücke ich am Haus der Eltern des dritten Opfers beherzt auf die Klingel.
"Verdammt… die sind in der Politik. Er zumindest. Bitte, vermassle da nichts, ja, Wolf?"
Ich? Vermasseln? Ich habe Fragen. Wenige noch. Aber die müssen geklärt werden. Er will Antworten. Und ich brauche auch welche. Wie kommt er dann…
"Ja bitte?"
Vor mir steht eine ziemlich gestylte Frau. Ich sehe zu Koller, der sich auch wundert.
"Tag, Wolf, BKA Wiesbaden. Wir haben aus gegebenem Anlass die Ermittlungen zum Tode von Carmen wieder aufgenommen und dabei ergeben sich ein paar Fragen. Sie gestatten?"
Noch ehe die Frau etwas sagen kann, wird sie von einem Mittfünfziger zur Seite gedrängt.
"Hallo. Sie kommen von der Polizei? Habe ich mir gedacht. Ich bin Carmens Vater. Ach, da sind Sie ja auch, Herr Kommissar!"
Er reicht Koller die Hand. Er weißt ihn auf seine Beförderung hin. Eitel… na ja. Ich wundere mich schon ein wenig. In dieser Provinz und doch eitel… aber des Menschen Wille…
"Ja, Probst, mein Name, aber das wissen Sie ja sicher. Das da ist Rosa. Eigentlich heißt sie Irina. Aber ich nenne sie so. Klingt ein wenig mehr Deutsch… ist eben… na ja. Wir leben…"
Er macht eine wegwerfende Handbewegung. Ich frage nach seiner Frau, die nach den Akten wohl keine Russin war. Sie ist weg, verkraftete den Mann nach dem Tode der Tochter nicht mehr, nahm nichts mit und soll jetzt in Norddeutschland leben. Verrückte Sache. Ich muss mir das sicher nicht anhören, habe andere, wichtigere Fragen… heute nur wenige. Eine genauer. Und ich weiß, dass ich ihn sicher noch einmal sehe, wenn ich weiter im Fall stecke.
Natürlich überlegt Herr Probst, dem der Selbstmord des Kindes sicher die vielen Haare kostete, die da auf einem Bild in der Schrankwand noch seinen Kopf zieren, und der den Rest nun silbergrau trägt, während er noch vor gut zwei Jahren volle schwarze Haarpracht hatte, und er kommt nicht gleich zu einer wirklichen Antwort, sondern eher zu einer Erklärung für diese Frau, die die ganze Zeit versucht, ihren Morgenmantel zu schloeßenund sich im Hintergrund zu halten. Fast ängstlich wirkt sie. Wenn Koller wollte, könnte er in ihr sicher eine illegal hier lebende Person identifizieren… aber eine diesbezügliche Feststellung inklusive einer Abschiebung wären für den Mann und für uns alle nicht gerade dienlich.
"Höhenangst… Wasser… schwimmen… na ja, sie ging gerne baden. Sie hasste es, wenn sie diese verfluchten Tage hatte und nicht gehen konnte. Auch hatte sie mal den Wunsch, da in den Profisport zu gehen. Doch na ja… das war auch nicht wirklich zu machen. Finanziell und von der Schule her. Sie musste hart arbeiten, wenn sie in Mathe und Physik mithalten wollte. Dafür lagen ihr die ganzen schöngeistigen Fächer ganz gut… aber na ja. Sie machte das alles allein. Nicht einmal mussten meine Frau oder ich sie auch nur auffordern… Hausaufgaben, zusätzliche Übungen… sie tauschte sich gar im Internet mit Gleichgesinnten aus. Die schicken sich gegenseitig Aufgaben… um die halbe Welt. Und sie löste sie, diskutierte dann die Ergebnisse und wurde immer besser. Besser… na ja, es reichte für die guten Versetzungen und sicher hätte es auch irgendwann einen ordentlichen Abschluss gegeben. Das war es doch, was sie sich wünschte… und dann das… ohne Grund… verdammt!"
Er heult. Der starke Mann sitzt da und heult vor sich hin.
Schwimmerin. Ich frage mich… nein, das ist auch wieder keine Verbindung. Oder doch?
"Wo ging sie denn Schwimmen?"
Schwimmen allein ist nicht die Lösung… es geht auch um die Höhe. Und man muss als Schwimmerin nicht vom Zehnmeterbrett springen. Es reicht der kleine Startblock.
"Hier im Bad… Hallenbad, Freibad oder auch drüben in Rudelstadt… ähm… Rudolstadt natürlich. Da ist der Saalemaxx. Schönes Bad. Da rutschte sie die ganze Zeit… oder eben hier… sie ist ja vom Sprungturm kaum wegzubekommen… gewesen…"
Wieder Stille. Er verkraftet diese Sache nicht. Wir sollten gehen… und ich hoffe einmal für dieses weibliche Wesen, was sich vielleicht als seine Muse fühlt, dass sie ihn auf andere Gedanken bringt. Doch wenn in den Unterlagen zu diesem Punkt nichts steht…
"Ging sie gern aus? Disco oder Freunde treffen, auch mal eine Tour, Campen, Wandern oder so? Urlaub, Reisen überhaupt? Was wollte sie denn mal beruflich machen? Oder stand erst noch das Studium an? Wohin wollte sie da gehen und was studieren?"
Hey, Koller arbeitet mit. Gut. Bisher war er hier drinnen mehr als nur still. Hat der Herr Probst gar nicht bemerkt.
Der sieht sich hilfesuchend nach seiner Freundin um, die nun endlich zu ihm kommt, sich auf die Sessellehne neben ihn setzt und dabei natürlich noch mehr mit ihrem Morgenmantel zu tun hat. Scheinbar verzichtet sie auf jegliche Wäsche darunter. Na ja, die Liebe… oder zumindest die Triebe…
"Sie… sie wollte in die Architektur. Hat schon immer gebaut. Wenn andere Mädels in ihrem Alter mit Puppen spielten, machte sie aus normalen Legosteinen kleine Kunstwerke… warten Sie, das hier… schauen Sie… ist das nicht toll?"
Probst hält mir ein Foto vor die Nase, das er aus einer Schublade des Couchtisches zog. Das ist keine Burg… das ist auch kein Hafen… das ist eine Verbindung. Sieht wie eine Burganlage am Wasser aus. Wieder Wasser… na ja, keines zu sehen. Nur eben diese Kräne, der Kai, die einzelnen Liegeplätze und auch Straßen. Sie begnügte sich nicht, wie so manch Anderer, mit ein paar passenden Steinen. Das war alles farblich abgestimmt. Und da, wo die kleinen Fahrzeuge zu rollen hatten, waren sogar glatte Dachplatten über die Steinkuppen gesteckt. Toll. Gehört schon eine Menge dazu. Ich hatte mal ein paar von diesen Steinen, mit denen ich eine Maschine bauen konnte, die Papierstreifen zu Wellen macht… so mit Druck und Gegendruck, Zahnrädern und Kurbel… Wellen zumindest. Na ja, Vater wollte mich in den Maschinenbau stecken. Die Polizei war ihm dann auch recht. Aber hier… Warum erhängt sich ein Mädel, das doch soviel vorhat, sich auch schon so viel erarbeitete und doch, wenn ich dem Vater trauen und glauben kann, eine Lebenslust besaß, die sich nicht mit einem verborgenen Selbstmord vereinen lässt?
Vereinen…
Das ist eine verrückte Geschichte.
"Ausgehen… nein, ausgehen wollte sie nicht immer gern. Sie hatte Freunde… Freundinnen, meine ich. Es gab auch mal einen Kerl… war ein Bubi… ‚Milchreisbubi' sagten wir früher immer. Ob das nun zutraf… für mich schon. Aber der war ein Guter und schneller weg, als ich es selbst wollte. Fällt nun einmal schwer, Kinder herzugeben und festzustellen, dass die eigene Tochter plötzlich einen anderen Mann mehr verehrt, als ihren alten Vater… Na ja, und ansonsten… Internet… Ja, ein paar Stunden. Wenn wir es zuließen. Und mal eine Disco. Immer mit Freunden, die wir kannten. Und nie kam sie zu spät von da zurück. Klingt, als wenn wir sie verstecken wollten. Aber so war es nicht. Sie wollte selbst nicht mehr. Ich bin nun einmal auch nicht der Typ, der ihr was verbieten konnte. Eben ein Vater."
Ja, das kenne ich. Ich muss lachen und wende mich vorsorglich dabei ab. Hier in diesem Haus hat sicher schon eine Weile keine wirkliche Fröhlichkeit mehr geherrscht. Das breche ich jetzt nicht auf.
Alles bleibt ruhig und wir verabschieden uns schon nach einigen Minuten. Was soll ich noch fragen? Koller brachte alles auf das rechte Maß. Wir wissen, dass es wieder eine Gemeinsamkeit… nicht gibt. Und nun müssen wir noch…

Von außen sehe ich mir das Dach des kleinen Reihenhäuschens an. Sehr ruhig ist es hier ringsum. Gegen den Trubel drüben bei den Siebengeschossern kann man wohl schon von einer sogenannten ‚Villengegend' sprechen. Auch wenn ich sicherlich nicht gerade ein Kenner der Materie bin. Da hätte uns die Carmen eher helfen können… als angehende Architektin. Nun ja, im Gymnasium zumindest. Ist es nicht ein Wahnsinn, sich manchmal schon etwas auszudenken, was vielleicht eines Tages in ferner Zukunft wahr werden kann… und doch ist alles schon so festgelegt? Nur der Tod… ja, der kam hier auf jeden Fall dazwischen. Verdammt aber auch!
"Da oben… ich habe sie noch hängen sehen. Die Kollegen kamen gar nicht so schnell hinauf. Aber das sah auch nicht wirklich toll aus. Die ganze Umgebung war auf den Beinen. Jeder wollte einen Blick auf die Tote werfen und wir hatten natürlich wieder einmal keine Möglichkeit, die Leute wegzubekommen… verdammte Gesetze… meist sind sie ganz nützlich. Aber wenn es um die wirklich wichtigen Dinge geht… behindern sie. Leider. Immer und immer wieder."
Ich sehe hinauf.
Der Schornstein. Der wurde in der Akte benannt. Habe ich mir ähnlich vorgestellt. Und sie kroch… oder lief… über diese dünnen Bretter, machte das Seil da an der Esse fest, legte sich die Schlinge um den Hals und sprang… oder rutschte… nein, sie muss fast gesprungen sein. Die Gerichtsmedizin meint, die Wucht reichte sonst niemals aus, diesen kleinen, gesunden und festen Hals zu brechen und fast in Stücke zu reißen.
Was man nicht alles lernen muss… bei den Ermittlungen. Ein Fünfzigjähriger braucht nicht einmal die Hälfte der Kraft, um sich zu erhängen, als es ein Vierundzwanzigjähriger benötigen würde. Mir wird schon beim bloßen Gedanken schlecht, mir überhaupt… na ja. Und sie hatte einen besonders stabilen Knochenbau, wie mir Koller noch einmal bestätigt. Gesund, keine Anzeichen, dass es auch nur einen anderen typischen oder auch untypischen Grund für diese Tat gab… Und doch ist sie tot.
"Komm, Wolf, komm… wir fahren!"
Ich sehe Probst hinter dem Fenster. Ja, er hat recht. Hier müssen wir nicht noch länger herumstehen. Zumal sich gerade einige andere der Nachbarn versuchen, einzuklinken und entweder nur aus ihrem Haus sehen, oder gar auf die Straße kommen und meinen Blicken folgen. Was das nun soll? Kleinstadt… ich weiß, warum ich das nicht will.

Die Fahrt geht weiter.
"Hier ist der Baumarkt, wo sich Pia das Rattengift besorgte."
Ich sehe den großen grünen Buchstaben im Gewerbegebiet. Eine Tankstelle gibt es da auch… Eine? Drei! Zwei auf der einen Straßenseite, eine auf der anderen. Man scheint sich hier besonders intensiv um die Autofahrer zu kümmern. Bei den neuen Verordnungen, einem Kraftstoff, der zwar nicht die aktuellen Normen erfüllt, aber eben mit Bio im Namen für alle ein besseres Gefühl vermitteln wird, kann man doch bei sterbenden anderen Kraftstoffsorten nur noch mit Preisen und überdurchschnittlicher Präsenz überleben. Ich frage mich, wer heute noch eine Tankstelle eröffnen wird. Der muss doch automatisch schon die Pleite geplant haben… Und diese eine Tankstelle sieht so aus, als wenn sie der bereits sehr nahe steht…
"Nein, weit gefehlt… die wurde mal vom Baumarkt betrieben. Dann gab es einen privaten Pächter ohne direkte Anbindung und nun ist der große Konzern mit der Muschel im Logo darauf gekommen. Und, was nun auch ganz gut ist… die anderen Anbieter da ringsum sind alle preiswerter… bisher zumindest. Da kann man sich doch freuen… gegen den No-Name-Anbieter konnte sich niemand eine wirkliche Preisschlacht leisten. Gegen den neuen Nutzer und Pächter wohl aber schon. Ob das jedoch auf Dauer gut geht… irgendwann wird sich natürlich das Ausbleiben der Kunden bemerkbar machen. Jedoch bis dahin… na ja."
Rattengift… das ist jetzt wichtiger. Auch wenn die Unterlagen inklusive des Videos vom Kauf des Giftes bei Koller im Büro sind, will ich mit dem Verantwortlichen sprechen. Der weiß vielleicht noch mehr und ich bekomme schon allein durch seine Reaktion einen Eindruck, ob man in diesem Markt wirklich alles ernst nimmt, was die entsprechenden Gesetze und Vorschriften betrifft.
"Gut, gehen wir rein!"
Koller will es scheinbar nicht. Er kann jedoch nicht anders… er steht eben… na ja… zwischen den Stühlen.

...

 

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